Presse

Bericht in den »Nürnberger Nchrichten«

VON HANS BÖLLER

Geschichte als faszinierendes Erlebnis

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Die Schüler-Dokumentarfilmgruppe von Rothenburg ob der Tauber hält seit 40 Jahren die Vergangenheitl ebendig.

Mit Stefan Hanselmann, erzählt Thomas Hufnagl, hatte er schon im Sandkasten gespielt, das ist ein halbes Jahrhundert her. Sie kann- ten sich von klein auf, sie mochten sich. Aber dass Stefan seinen Opa nie kennenlernen durfte, wusste sein ehemaliger Sandkastenfreund lange nicht. Den Großvater hatten die Nazis ermordet, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der Landwirt Friedrich Hanselmann gehörte zu den Männern, die mithelfen wollten, ihr Dorf kampflos den Amerikanern zu übergeben, der SS-General Max Simon ließ sie dafür erhängen – am 10. April 1945 an den Friedhofslinden in Brettheim bei Rothenburg ob der Tauber.

»Man hat nie darüber geredet«, sagt Thomas Hufnagl – bis zu jenem Sommertag im Jahr 1981, als sie es doch taten, in der Oscar-von-Miller-Realschule von Rothenburg, an der Thilo Pohle Deutsch und Geschichte unterrichtete. »Mit 40, 45 Jahren«, sagt Thilo Pohle, »musst du dir als Lehrer neue Ziele suchen, du beginnst abzubauen, der Elan lässt nach, du wirst verwundbar.« Der Lehrer Pohle kannte die Geschichte des Großvaters seines Schülers Stefan Hanselmann – und schlug vor, sie zu erzählen, mit der Kamera.

Thomas Hufnagl – damals »sicher kein Musterschüler«, wie er selbst sagt – gehörte zu den ersten Jugendlichen, die begeistert waren von dieser Idee. Der Lehrer Pohle, der bis dahin noch nie gefilmt hatte, organisierte eine Kamera, sie richteten einen Schnittraum ein, studierten Quellen, entwarfen Drehbücher – und besuchten Zeitzeugen in der Region. Schule war auf einmal sehr, sehr spannend. »Als der Frieden schon so nahe war« heißt der Film über Brettheim, nicht im Traum hätte Thilo Pohle daran gedacht, dass es heute, 40 Jahre später, 45 Filme, darunter 30 zur NS-Vergangenheit, sein würden.

Aus dem Projekt wurde die mehrmals ausgezeichnete Rothenburger Dokumentarfilmgruppe, offen für Interessierte aller Schulen aus der Region. Mittlerweile die elfte Schülergeneration macht sich unter Anleitung des heute 82 Jahre alten Thilo Pohle auf die Suche nach dem Umgang mit der Erinnerung, daheim in Franken, aber auch in den USA, in Russland, in halb Europa. Sie filmten in Indien, Kenia, Tansania – dort den Alltag der Kinder, die selbst vor und hinter der Kamera standen. Die Filme gibt es mittlerweile in 17 Sprachen. »Die Arbeit hat mein ganzes Leben beeinflusst«, sagt Thomas Hufnagl, heute 53 Jahre alt, das könne er im Namen vieler ehemaliger Mitschüler sagen.

Thilo Pohle ist ein sanfter, bescheidener Mensch, voller Leidenschaft für das, was er niemals sein Lebenswerk nennen würde, große Worte liegen ihm fern. Aber hier, beim Treffen in der Bibliothek der Bleidorn-Kaserne von Ansbach, herzen ihn die US-amerikanischen Gastgeber, man hörte Sätze voller Dank, voller Respekt, ja: voller Zuneigung.

»Thilo und seine Schüler«, sagt Randy Herbst, »haben mir das Leben meines Großvaters während des Krieges in Deutschland nähergebracht.« Nazi-Deutschland, die Konzentrationslager, darüber, sagt er, lerne man in den USA alles, »aber jetzt haben die Menschen Gesichter, Namen, Lebenshintergründe« – es ist, findet Randy Herbst, »der richtige Weg, sich besser zu verstehen«.

Randy Herbst ist einer der acht Army-Angehörigen, die gerade den jüngsten Film – einen Film über das Kriegsende in Rothenburg – synchronisiert haben, »sehr emotional«, sagt seine Kollegin Leah Harvey, sei das gewesen. US-amerikanische Geschichte seit der Unabhängigkeit 1776, erklärt Mike Colarusso, der Leiter der Bibliothek, finde sich hier in den Regalen in Ansbach – aber jetzt erweitert um ein besonderes Kapitel, »eines aus unserem eigenen Leben hier«. »Ein Zeugnis der Kraft der Menschlichkeit« nennt Major Philson Tavernier den Film, den die Rothenburger Schüler im Herbst in San Francisco zeigen werden. Die kampflose Übergabe der Stadt Rothenburg am 17. April war, im letzten Moment und dank einer Friedensinitiative der Amerikaner, in der ehemaligen Kuranlage Wildbad an der Tauber verhandelt worden. Dort, im Rokokosaal, sahen nun die amerikanischen Soldaten den Film – »das traumhafte Rothenburg«, sagt Leah Harvey, »werde ich jetzt nie mehr vergessen, weil es zu unserer, auch zu meiner Geschichte gehört – mit der Botschaft, Frieden zu schließen«.

Es ist die Erfahrung, die seit 1981 über 200 Schülerinnen und Schüler gemacht haben: wie sehr Geschichte bewegt, welches Interesse das dann weckt – und wie befreiend es sein kann, darüber zu reden. Frieden zu schließen, mit sich selbst, mit dem Erlebten. Thomas Hufnagl erinnert sich gut an die Anfänge, an das Schweigen, an die Scham. »Wir waren vorsichtig«, erzählt er, »wir wollten nicht urteilen, nicht verurteilen«, wie andere trieb ihn auch die eigene Familiengeschichte an. Sein Vater gehörte zu den Vertriebenen aus dem Sudetenland, »aber darüber sprach Papa nie«.

Manchmal war es auch für die Schüler beklemmend, wenn gut bekannte ältere Nachbarn auf einmal ehemalige Mittäter waren. Aber sie haben es auch anders erlebt; es bewegt Thomas Hufnagl noch heute, wenn er von der alten Frau erzählt, die sich ihr Leben von der Seele redete, beinahe im Wortsinn. »Jetzt kann ich es endlich auch meinen Enkeln erzählen«, das, sagt er, habe sie damals geäußert – und sich bedankt.

Man erzählt es eher den Enkeln als den Kindern, weil es Distanz braucht – das ist eine der Erfahrungen aus 40 Jahren Filmarbeit, erklärt Thilo Pohle. Es sind mittlerweile über 800 Veranstaltungen, auf denen – in Kooperation mit Goethe-Instituten, Universitäten oder Schulen – die Gruppe ihre Projekte vorstellte, von Moskau bis San Francisco, von Kopenhagen bis zur Elfenbeinküste. Und sehr gerne in fränkischen Dörfern.

Thilo Pohle sagt, dass er seine Schüler bewundert, »es gehören ja oft Kraft und Mut dazu, sich so in Geschichte zu vertiefen«. Sie haben auch in Oradour in Frankreich gedreht, dem Schauplatz eines fürchterlichen Kriegsverbrechens, Robert Hebras, einer der wenigen Überlebenden des Massakers vom Juni 1944, erzählte den Schülern vom Morden der Waffen-SS. Dank Robert Hebras sei sie »gereift und ein Stück weit erwachsen geworden«, schreibt eine Filmschülerin im gerade erschienenen Buch über die Arbeit der Dokumentarfilmgruppe.

In Moskau war Thomas Hufnagl, lange nach seiner Schulzeit, dabei, als sie die russische Fassung des Films aus Brettheim zeigten. Am Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, erzählt er, haben sie sich an den Händen gehalten, junge Russen und junge Deutsche, »und wir haben uns versprochen, dass das, was unsere Großeltern erleben mussten, nie wieder vorkommen wird«.

Nürnberger Nachrichten, 27. Juli 2021
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